Ich habe sie immer noch – aber sie hat sich gewandelt: Meine Beziehung zu Schuhen.
Klischeemässig sind es ja die Frauen, die nicht genug bekommen können von Schuhen und mit den Jahren Duzende (wenn nicht Hunderte) Paare akkumulieren, die sie kaum je tragen, oder noch gar nie getragen haben. Aber das ist ein anders Thema (Minimalismus).
Thema hier sind die «guten Schuhe». Aufgewachsen in einer outdoor-affinen Schweizer Familie, achtete meine Eltern stets darauf, dass ich „gute Schuhe“ habe. Also stabile Lederschuhe eigentlich. Weil wir jedes Jahr im Sommer in die Berge wandern und bergsteigen gingen, waren die „Bergschuhe“ für mich gewissermassen der Inbegriff dessen, was «gute Schuhe» anbelangt. Feste, schwere Schuhe mit einer harten, griffigen (Vibram-) Sohle. Mit solchem Schuhwerk kann passieren was wolle, ich war gerüstet: Geröll, Schlamm, Schnee und Dreck. Alles kein Problem.
Eine frühe Kindheitserinnerung von mir ist, wie ich im Sand, Dreck oder Schnee stets die Profilabdrücke der Schuhe anderer begutachtete und Schlüsse daraus zu ziehen versuchte. In den frühen Achtzigerjahren waren die Japaner mit ihren Turnschuhen das Gespött auf den Wanderwegen in der Schweiz. Wie unverantwortlich das doch ist, war der Tenor der berggängigen Einheimischen.
Und heute? Heute bin ich so einer, der nicht einmal in Turnschuhen wandert, sondern ganz ohne Schuhe oder in «Sandalen» (Xero Shoes Genesis). Mittlerweile jogge/laufe ich auch barfuss (oder in Vivobarefoot Stealth II oder Xeroshoes Speed Force).
Möglichst leichte Bergschuhe (aber mit steifer Sohle) habe ich manchmal nur noch aus Sicherheit dabei, etwa bei der jährlichen Tour des Alpes, wo ich mit Freunden, Zelt und Kocher vier Tage durch die Alpen ziehe. Je nachdem kann es dort vorkommen, dass ich auf Schneefeldern oder in weglosem Gelände froh bin um die Vereinfachung des Gehens, die mir eine harte Sohle bietet. Auch der Sicherheitsaspekt spielt je nach Terrain eine Rolle.
Begonnen hat mein mittlerweile ausgeprägter Barfuss-Spleen so richtig im Sommer 2011. Das ewige Geschwitze an den Füssen war mir schon seit Jahren zuwider. Zudem hatte ich manchmal nach Stunden gar gefühllose Zehen nach steilen Abstiegen. Blasen waren eher kein Thema mehr, seit ich mir 2004 auf Basis der Armee-Bergschuhe (Modell 70) massgeschneiderte Klötze anfertigen liess.
Doch wie kann ich den ganzen Tag in Flipflops (Havaianas damals) sein in der Stadt, aber in den Bergen muss ich das heisse, schwere Schuhwerk montieren. Für was überhaupt? Und so wanderte ich eines Tages einfach mit den Flip-Flops los und siehe da: kein Problem, vor allem beim Aufstieg nicht. Absteigen kann etwas schwieriger werden (mehr dazu später).
Ach ja, fast hätte ich es vergessen: In jenem Sommer hatte ich mir «Vibram Five Fingers (classic)» gekauft, um darin zu wandern. Mit passten die Schuhe gut, auch von der Zehenlänge her, und ich fühlte mich speziell darin.
Nach einigen Wanderungen in den Schweizer Alpen stellte ich jedoch fest, dass ich in den Five Fingers genauso schwitze wie in allen anderen Schuhen und auch das beengende Gefühl dasselbe war. Im Abstieg kam ich besonders auf feuchten Wiesen auch ins Rutschen. Zudem hatte ich nach einigen Stunden auch eine Blase hinten an der Achillessehne. Unangenehm war auch dass Sand, Steinchen und allerlei vom Waldboden in die Schuhe gelangten.
Also wechselte ich wieder zurück zu meinen geliebten Havaianas-Flipflops. Solange es einen markierten Weg hat (hat es viele in den Schweizer Alpen, im Gegensatz zu Italien, wie es zwar auch Markierungen, aber keinen Pfad hat), geht das prima. Schwieriger ist, wie erwähnt, das Absteigen vor allem bei Nässe. Deshalb trug ich im Rucksack stets Trail-Running-Schuhe von Salomon mit. Irgendwie traute ich nicht noch nicht ganz. Die frühkindliche Prägung was gute Schuhe und «Wanderschuhe» angeht, war noch zu stark.
Die Flipflops wurden für mich, nicht nur in den Bergen, zu meinen Lieblingsschuhen. ich konnte daran fast alles machen und hatte erst noch Sonne und Luft auf meinen Füssen. Das schwierigste am permanenten Flipflop tragen fand ich höchtstens den sozialen Aspekt, d.h. das offene Schuhe, gerade bei Männern, nicht überall akzeptiert sind im Alltag. Zumindest wird man schräg angeschaut, was mir eigentlich egal ist, aber (ja, was aber?!). Im Büro trug ich deswegen geschlossene, aber ziemlich gut gelüftete «Rivieras»
Dich die intensive Beschäftigung online mit – ausgehend ursprünglich von den Five Fingers – stiess ich bald einmal auf den Namen Cristopher Mc Dougall. In unzähligen YouTube Videos äusserte sich dieser Journalist und Buchautor zum Barfuss-Laufen und wie dies doch die ursprüngliche Natur des Menschen sei.
Mir ging ein Licht auf.
Da war viel mehr dahinter als nur keine schwitzenden Füsse zu haben. Mc Dougall schwärmte davon, wie er nun Verletzungsgefahr sei, nachdem er die gepolsterten und stützenden Schuhe nicht mehr trug. Er machte diese Reden im Zusammenhang mit seinem empfehlenswerten Buch «Born to Run» für welches er auf Promo war. Nach etlichen Video mit derselben Aussage las auch ich dieses Buch, welches mittlerweile ein Klassiker darstellt in der Barfuss/Natural-Running Szene. McDougall ging darin zu den Tarahumara Indianern in Mexiko und war erstaunt darüber, dass diese mit primitiven Sandalen längste Strecken scheinbar mühelos und vor allem verletzungsfrei zurücklegen konnten. Aus seiner Sicht war klar, dass wir in der westlichen Welt über 40 Jahre auf dem falschen Pfad waren – seit der Erfindung des Jogging-Schuhs durch Nike 1969. Die heute so typischen Lauf-Verletzungen gibt es erst seit dann.
Laut McDougall gibt es nur zwei Arten von Joggern: solche, die gerade verletzt sind, und solche, die noch nicht verletzt sind. Dies vor allem, weil in dick gepolsterten Schuhen falsch gelaufen wird, also auf der Ferse gelandet wird, wodurch Knie, Hüfte und Rücken leiden durch die Schockwellen des Aufpralls. McDougall betont in seinem Buch auch, dass der Fakt, dass Jogging-Schuhe schaden, nicht bekannt wird, weil dahinter ihre Milliarden-Industrie steckt – und auf der Gegenseite keine; oder wie will man Gewinn machen, indem man «nichts» verkauft, sondern nur sagt «barfuss» sei gesünder? Ok, indem man ein Buch darüber schreibt…..
Die wissenschaftliche Evidenz überzeugte mich vollends (Google: Daniel Liebermann, Harvard-Professor: «The Story of the Human Body»). Es ist ja ich logisch. Was macht man nach einem Armbruch, wenn der Gips weg ist? Klar, man baut die Muskeln im Arm mit Training langsam wieder auf. Das Gegenteil passiert indes bei den Füssen. Nach jahrzehntelangem Laufen in stützenden Schuhen ihrer Kraft und Muskeln beraubt, sucht man bei den Füssen das Heil in noch mehr Stützung und Polsterung. Und noch mehr Einlagen etc. Statt die Muskulatur im Fuss zu stärken und ihm seine ursprüngliche Mobilität zurückzugeben.
Ich war fasziniert – und ging im April 2016 erstmals nicht mehr joggen, sondern laufen. Dabei suchte ich mir gleich zu Beginn die härteste Disziplin aus: barfuss auf geschotterten Waldwegen, Schmerzen an den Sohlen inklusive. Durch die weggefallene Protektion an den Sohlen stellte sich ersten der Laufstil beinahe von alleine um. Kein Fersen-Laufen mehr möglich; es täte zu fest weh. Stattdessen Auftritt auf dem Vor/Mittelfuss flach in Kombination mit einer etwa halb so langen Schrittlänge mit Auftritt unter dem Schwerpunkt des Körper statt weit davor.
Am Anfang war das Gehirn ob den vielen Informationen die die Füsse plötzlich lieferten beinahe überfordert. (In den Füssen sind seeehr viele Rezeptoren; nur die Hände, Genitalien und Lippen haben mehr). Ich merkte förmlich, wie der für die Füsse zuständige Bereich in meinem Hirn wuchs.
Mittlerweile fühle ich mich mit Schuhen auf eine Art blind: die Informationen, die die Fusssohlen mir über den Untergrund übermitteln, fehlen mir dann.
Je tiefer ich in die Materie eindrang, umso wichtiger wurden mir meine Füsse. Auch entdeckte ich, dass meine glücklicherweise noch nicht so degeneriert waren, wie jene anderer. So kann ich etwa meinen grossen Zehen autonom bewegen oder die Zehen spreizen. Zum Glück war ich seit Kindheit viel barfuss, vor allem zuhause. Dennoch haben Schuhe meine Füsse verändert. Denn Füsse sind eigentlich flüssig, d.h. sie sind leicht formbar, ohne dass es weh tut. Schon Socken können Füsse verändern und sie von ihrer natürlichen V-Form in die typische A-Form von Schuhen transformieren. Umso mehr passiert dies durch spitz zulaufende Schuhe und Millionen von Schritten.
Die ursprüngliche V-Form zu erreichen ist ein Ziel von mir. Heute ist es noch eher eine U-Form. Deshalb traininere ich meine Zehen zwischendurch immer wieder mit «Toega».
Mittlerweile ist mir in «mainstream» Schuhen immer bewusst, wie meine Füsse eingezwängt werden (auch wenn es sich nicht danach anfühlt). Doch spreizen kann ich meine Zehen darin nie richtig. Deshalb trage ich heute fast ausnahmslos sogenannte Barfuss-Schuhe, falls ich denn überhaupt geschlossene Schuhe trage. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie 1.) eine grosse Zehenbox haben, 2.) keinen Absatz (Zero-drop) und 3.) eine in alle Richtungen flexible Sohle. Dasselbe gilt auch für «Sandalen». Allerdings sind aus meiner Sicht nicht alle Barfuss-Sandalen gleichermassen sinnvoll – etwa wenn der grosse Zeh in seiner Mobilität nach aussen eingeschränkt wird. Ich empfehle deshalb eher solche mit einem Flipflops-ähnlichen Steg zwischen den Zehen.
Paradoxerweise (oder logischerweise) habe ich etliche Schuhe gekauft, seit ich mich mit dem Barfuss-Gehen auseinandersetze. Dies ist vor allem dem mitteleuropäischen Klima geschuldet. In tropischer Umgebung hätte ich kaum je geschlossene Schuhe an.
Am schönsten ist es dennoch immer noch komplett barfuss. Bemerkenswert und unerwartet war für mich vor allem die verschiedenen Temperaturen des Bodens zu spüren. Das Verletzungsrisiko durch Scherben etc. ist gering, man hat ja Augen im Kopf. Schon eher ein Risiko ist es, von einem Tag auf den anderen barfuss rennen zu gehen, weil die Muskulatur an Fuss, Waden etc. Einfach nicht darauf vorbereitet ist. Es braucht – wie alles – Zeit und Training.